Die These

‚Vergleichen sie wie existenzielle Verunsicherung in einem anderen literarischen Werk dargestellt wird‘

So oder so ähnlich lautete Teilaufgabe b) des Deutschabiturs 2016 vor etwa einer Woche.
Eine gute Aufgabe wenn man mich fragt, eine Aufgabe die einen selbst zum Denken anregt, wenn man erstmal ein Vergleichswerk gefunden hat. Wie so viele entschied ich mich für Woyzeck – liegt ja nahe, ein armer Schlucker, der sich unterwerfen muss, durchdreht und seine Frau ermordet, wenn das kein Muster einer gescheiterten Existenz ist weiß ich nicht mehr.

Das Gedicht, dass zuvor analysiert werden sollte war dieses:

Fremder

Ich falle durch jedes Netz,
wie ein Toter
falle ich durch die Netze hindurch.
Samenkorn ohne Erde
schwerelos
treibt mich der Wind
aus allen Netzen empor.
Wohin ich komme, Gespinst von Wegen,
eng verknüpft.
In jeder Stadt liegt bereit
was sie brauchen,
Spielzeug und Hochzeitslaken
und der Platz
bei dem Sarg der Mutter.
Ich brauche nichts, ich komme und gehe
mit offenen Händen.
“Unsere Sprache sprichst du”,
sagen sie überall
mit Verwundern.
Ich bin der Fremde,
der ihre Sprache spricht.

Vor mir wird aufgebaut,
hinter mir abgeräumt,
die Bühne aus sehr dauerhaften
Häusern, Strassen, Bäumen.
Minuten ehe ich komme,
ein Platz, Stühle, ein Tisch.
Man bringt mir Kaffee,
ich spreche die Sprache des Kellners.
Stunden entfernt
baut man ein Schlafzimmer auf
in einem lauten Hotel.
Niemand wartet am Zug.
Ich ziehe um mich
das kleine schon dünne Tuch
deiner Liebe,
mein einziges Kleid.
Ich gehe im Licht
eines fernen
längst erloschenen
Lächelns.

~Hilde Domin

– Aber ich möchte hier nicht meine Interpretationsansätze ausformulieren, auch wenn sie bestimmt nicht all zu abwägig sind, ich möchte lieber eine These aufstellen.
Die These, die ich im Vergleich von Woyzeck und „Fremder“ schon aufstellte ohne sie zu explizit in den Vordergrund zu schieben.
Jeder Mensch braucht eine Konstante.
Für Hilde Domin war es die Sprache, für Woyzeck war es Marie.
Wessen Existenz ist noch nicht gescheitert?
Hilde Domins.
Woran das liegt? Warum scheitert die eine Person an ihrer existentiellen Verunsicherung und die andere nicht?
Ich denke es liegt an ihrer Konstante.
Einen Mensch als grundliegende Konstante der eigenen Existenz zu wählen ist nicht gerade von Stabilität geprägt. Menschen sind nicht so leicht berechenbar, sie sind greifbar, verletzlich, aber emotional wertvoll.
Egal wie sehr man einem Menschen vertraut, oder wie sehr er dir vertraut, er bleibt ein Mensch und damit fehlbar. Ja auch Fehler sind schätzenswert, menschlichkeit nennt man das, aber seine Existenz auf dem Klappergestell eines anderen Menschen zu bauen ist dennoch riskant.
Anders die Konstanten wie Sprache, Kunst, Musik, Zahlen.
Transzendenz.
Sie waren schon immer da, wenn auch nicht schon immer niedergeschrieben und sie werden auch immer da sein. es ist diesen Medien egal, ob unsere Existenz siegt oder scheitert und gerade deshalb sind sie so stabil.

Um die These auf den Punkt zu bringen: Ich denke, dass Menschen, die ihre Existenz nicht über Konstanten definieren die greifbar sind, sondern über Konstanten losgelöst von Zeit und Raum eine höhere Chance haben an ihrer existenziellen Verunsicherung nicht zu scheitern.

Wie ich jetzt auf das Thema komme?
Eigentlich wollte ich direkt nach dem Abi noch darüber schreiben, aber mein Kopf war etwas schwach danach 😉 Dann hatte ich es fast vergessen, bis das Thema der „Austauschbarkeit“ mich erfasste. Die Frage ob gewisse Menschen für mich austauschbar sind. Die Antwort auf diese frage lautet Nein. Sie sind nicht austauschbar, denn wenn ich sie austauschen wollen würde, dann würde ich mich einfach mit diesen Leuten nicht zu intensiv auseinandersetzen und weiter ziehen. Trotzdem habe ich schon länger nicht mehr den Drang einen Menschen als Konstante zu erzwingen – meine Familie vielleicht- auch wenn ich mich schon darüber freue, wenn ich das Gefühl habe, manche Menschen bleiben für immer da. Nur mich über sie zu definieren wäre mir wohl zu riskant. Ich weiß noch nicht über was ich mich definieren soll… Gott sei Dank bin ich momentan nicht drauf und dran an existenzieller Verunsicherung zu leiden … – obwohl, was ist eigentlich nach dem Abi…

Hm über was definiere ich mich? Brauche ich überhaupt etwas das mich definiert oder reicht es einfach zu sein. Vielleicht bin ich am Ende meines Lebens schlauer, die Frage nach der eigenen Definition ist ungefähr so leicht zu lösen wie die nach dem Sinn des Lebens. Beides entwickelt sich, beides ist nicht greifbar wenn man es sich nicht greifbar macht.

Na dann meine Lieben…
Seid losgelöst von Wackligem
Sucht die Konstante

und wenn ihr sie habt, dann erzählt mir davon.

Liebe Grüße,

Melli
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Edit 15.6.16 :
Ganz verkehrt war diese Interpretation wohl nicht, immerhin waren es dann 13 Punkte im Deutsch Abi ^^

5 Gedanken zu “Die These

  1. für woyzeck wurde ich ins bochumer schauspiel gejacht damit ich kultur lernen tu
    verstanden hab ich eigendlich nix
    ich dachte eh an fussball und handball
    darum kann mein beitrach nur unterirdisch sein

    die menschliche existenz auf einen anderen menschen aufzubauen und das abzulehnen das verstehn zitterwölfe aber nur all zu gut
    das is nich nur völliger unfug es is abstruse dummheit
    die despoten in der ganzen welt leben davon
    von idioten die ihr fähnchen schwenken

    sonderbar is aber folgendes:
    das christentum hat ja europa entscheidend geprägt
    und der mittelpunkt des christentums ist ein „gescheiterter“

    diese dialektik zu thematisieren is nich unbedingt dümmlich

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    • Erstens is „Scheitern“ relativ …
      zweitens is mir in meinem Leben noch kein Christ begegnet, der die Lehren von Jesus ernst nähme.

      „Wenn dir jemand etwas Böses antun will, leiste keinen Widerstand.“

      Jo, das klingt nach Abendland. Kein Zweifel möglich. War nie anders.

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  2. „Ich denke, dass Menschen, die ihre Existenz nicht über Konstanten definieren die greifbar sind, sondern über Konstanten losgelöst von Zeit und Raum eine höhere Chance haben an ihrer existenziellen Verunsicherung nicht zu scheitern.“

    Jaaa, so denkt ISIS auch.
    Watt wäre uns im Laufe der Jahrhunderte alles an Blutzoll erspart geblieben, wenn Menschen, insbesondere die sich mit großem Stolz verkopfende Variante, in der Lage wären, folgende Fakten als solche zu realisieren:

    – Existenz kann nicht scheitern, weil sie keinen generell zu erfüllenden Sinn hat.
    – Existenz über die (scheinbare) Existenz anderer zu definieren, ist destruktiv.
    – Es gibt keine Konstanten „losgelöst von Zeit und Raum“.

    Deine These ist somit unsinnig.
    Kann aber gar nich anders sein, weil sie auf Konzepten basiert, die wiederum in sich unsinnig sind.

    Aus eigener Erfahrung weiß ich jedoch, wie wenig souverän Pädagogik mit derlei Weltsicht umzugehen vermag … also ….. gut gemacht ……. nehm ich an ……………………………………………

    P.S.:
    Menschen sind selbstredend austauschbar, was den meisten von uns klar wird, wenn wir allerspätestens durch die Sterblichkeit unserer Nächsten zum Austausch gezwungen werden.

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    • ISIS ist ja auch auf ihre Art Erfolgreich. Man muss schon sehen dass die Konstante mit der guten teils gesellschaftlichen Moral zusammenpasst – natürlich.
      Naja Existenz scheitert natürlich nur im Rahmen der Definition, solange man sich selbst nicht gescheitert fühlt ist man vermutllich tatsächlich nicht gescheitert… Aber da Woyzeck und die Gesellschaft ihn als gescheitert ansehen würde ich ihn scho mit gescheiterter Existenz bezeichnen.
      Hmh Ich sehe das Problem, losgelöst von Raum und Zeit ist nichts. aber vielleicht losgelüst von Uhrzeit und Ort um es genauer zu beschreiben 🙂
      Hm … naja an die Stellen von den Menschen die in meinem Umfeld bisher gestorben sind sind keine anderen Menschen getreten, vielleicht an Stellen die ähnlich sind, aber nicht die selben 😉

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  3. Wohl etwas spät, das hier zu kommentieren, aber ich habe auch 2016 mein Deutschabi über dieses Gedicht geschrieben. Da mich das Gedicht während der Prüfung schon so berührte, habe ich es heute mal wieder gegoogelt und bin auf deinen Beitrag gestoßen!
    Schön geschrieben, auch die These mit der Konstante, kann ich sehr gut nachempfinden. Menschen sind aus eigener Erfahrung und Beobachtung tatsächlich nicht die stabilste Stütze für unsere Existenz, auf jeden Fall nicht einzelne Menschen.
    Wobei ich in Domins Gedicht nicht wirklich wieder finde, dass sie die Sprache als eine Konstante empfindet, die die menschliche Stabilität ersetzt. Sie ist ein Mittel zum Zweck, welches ihr aber doch nicht ermöglicht, die Distanz und die Einsamkeit zu überwinden. Vor allem der letzte Absatz klingt für mich doch sehr nach einer menschlichen Stütze, die wohl nicht mehr gegenwärtig ist, aber ihr als Erinnerung noch den Mut verleiht, weiter zu machen.

    Also was ist nun mit den Menschen und den Konstanten? Für mich persönlich erscheint eine Mischung am sinnvollsten. Ein Ausgleich zwischen „gesunden“ Beziehungen und Zeit überdauernder Motivation, weiter zu machen. Woher man nun solch eine Motivation bekommt, ist, denke ich, ziemlich Typ abhängig.
    Immer wieder relevant, darüber nachzudenken!

    LG

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